D. Matasci: L’école républicaine et l’étranger

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Titel
L’école républicaine et l’étranger. Une histoire internationale des réformes scolaires en France 1870–1914


Autor(en)
Matasci, Damiano
Erschienen
Lyon 2015: ENS editions
Anzahl Seiten
274 S.
von
Claudia Crotti, Institut Primarstufe, Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz

Damiano Matasci geht in seiner Publikation der These nach, dass Untersuchungen zur Entwicklung nationaler Bildungssysteme – im vorliegenden Fall das französische Bildungssystem – zu internationalisieren seien. Der Autor leistet mit seiner Analyse einen Beitrag zur Historisierung einer globalen Bildungspolitik. Er zeigt auf, dass die Genese nationaler Bildungssysteme im 19. Jahrhundert nicht in einem hermetisch geschlossenen nationalen Raum stattfand. Diskursiv und institutionell gestützt überwanden Bildungsideen und Bildungsmodelle staatlich definierte Räume. Welcher Transferlogik diese Ideen und Modelle folgten, wird vom Autor näher analysiert. In diesen Prozessen, zeitlich konzentriert auf die Jahre 1870–1914, ortet Matasci die Vorläufer einer heute zunehmend globalisierten Bildung und Bildungspolitik.

Die Publikation gliedert sich in drei Teile. In einem ersten wird die Produktion und Zirkulation von Wissen zur Vielgestaltigkeit internationaler Bildungssysteme und -ideen in Frankreich näher betrachtet. In einem zweiten Schritt fokussiert der Autor die französischen Bildungsreformer und die internationale Bildungsreformbewegung. Drittens schliesslich untersucht Matasci unterschiedliche Transferlogiken im Zusammenhang mit konkreten Schulreformen in Frankreich.

Damiano Matasci identifiziert unterschiedliche Zirkulationsformen pädagogischer Ideen im 19. Jahrhundert. Zum einen analysiert er sogenannte Studienreisen von Schulinspektoren und Lehrpersonen, die andere Länder mit Blick auf anstehende Schulreformen im eigenen Land bereisten. Ihre Erfahrungen publizierten sie in pädagogischen Zeitschriften oder rapportierten diese an staatliche Institutionen. Die sich im 19. Jahrhundert etablierenden Weltausstellungen und internationalen Kongresse sind die zweite Zirkulationsform, die die Studie thematisiert. Eine dritte lokalisiert der Autor in den musées pédagogiques, den eigentlichen Dokumentationszentren, in denen Bücher, Statistiken, Lehrpläne aus aller und der eigenen Welt gesammelt und ausgestellt wurden. Schliesslich wird als weitere zentrale Form der Zirkulation die pädagogische Presse analysiert. Der Autor kommt zum Schluss, dass die internationale Perspektive in Frankreich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorgängig der Stärkung und Festigung des eigenen nationalen Bildungssystems diente.

Parallel zur Herausbildung unterschiedlicher Zirkulationsformen pädagogischer Ideen verlief eine zweite Bewegung, die Gründung erster internationaler Organisationen, die sich Bildungsfragen zuwandten und damit zur Globalisierung von Bildungsideen beitrugen. Hier wird nochmal Bezug genommen auf die Weltausstellungen, an denen Bildung und Erziehung integraler Bestandteil des Programms waren und die Länder ihre Errungenschaften und pädagogische Ideen verglichen. Zeitgleich stieg die Zahl internationaler Kongresse, an denen spezifische Fragestellungen diskutiert und Wissenseliten mobilisiert wurden. Diese internationale Zusammenarbeit und vor allem ihre Verstetigung durch die Einrichtung von permanenten Büros war zentral für den Prozess der Internationalisierung von Bildungsfragen. In den Zirkeln internationaler Kongresse lässt sich eine relativ geschlossene Gruppe von Reformern identifizieren, die eine transnationale Expertise aufwies und eine Art «grammaire européenne de la réforme scolaire» festlegte (S. 164). Die Weltausstellungen sowie die internationalen Kongresse intensivierten den wissenschaftlichen Austausch; die sich herausbildenden internationalen rganisationen beeinflussten die Entwicklung nationaler Bildungssysteme. Gemäss Matasci konstituierten sie gleichsam eine europäische Gemeinschaft in Bildungsfragen.

Im dritten Teil wird an konkreten Beispielen die Logik der Aneignung, des Transfers und der Umsetzung des internationalen Bildungsdiskurses durch Reformer thematisiert. Die Schlacht bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg im September 1870 war vorentscheidend für dessen Ausgang. Die französischen Truppen kapitulierten in der Folge, und Kaiser Napoleon III. wurde festgesetzt. Das französische Volk stürmte daraufhin die Deputiertenkammer in Paris, setzte den Kaiser ab und rief eine Republik aus. Als die Republikaner an die Macht kamen, reformierten sie die Armee und die Schule. Die Einführung der Schulpflicht, die Unentgeltlichkeit von Bildung und die Verweltlichung der Schule legitimierten die Reformer mit Blick auf die Bildungssysteme im Ausland. Durch die internationale Dimension – Weltausstellungen sowie internationale Kongresse und Organisationen – näherten sich die öffentlichen Bildungssysteme im westlichen Europa immer mehr an.

Damiano Matasci untersucht in seiner Publikation eine Frage, die bisher in der Bildungsgeschichte wenig Beachtung fand. Die Historiographie zur Entwicklung nationaler Bildungssysteme band vor allem lokale, regionale und nationale Dimensionen ein. Demgegenüber weist der Autor in seiner Untersuchung nach, dass die internationale Dimension in der Konstituierung nationaler Bildungssysteme eine zentrale Rolle spielte. Es gelingt ihm, quellennah und detailreich Prozesse der Zirkulation von Wissen, der Wissensaneignung und des Transfers von Bildungsideen und -modellen mit Blick auf das französische Bildungssystem zu veranschaulichen. Methodologische Überlegungen bereichern die Lektüre ebenso wie Bezüge zu weiteren aktuellen Forschungsarbeiten. Damit leistet Matasci einen wesentlichen Beitrag nicht nur zur Geschichte des französischen Bildungssystems zwischen 1870 und 1914, sondern auch zur Genese nationaler Bildungssysteme, die sich bei näherer Betrachtung nicht mehr als ausschliesslich national rweisen.

Zitierweise:
Claudia Crotti: Rezension zu: Damiano Matasci, L’école républicaine et l’étranger. Une histoire internationale des réformes scolaires en France 1870–1914, Lyon: ENS Éditions, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 519-520.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 519-520.

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